Quartalsbericht Q2/2022

Quartalsbericht Q2/2022

Entwicklungen im Internet Governance Umfeld April bis Juni 2022:

Das Internet wird mehr und mehr hineingezogen in die globalen geo-strategischen Konflikte des Jahres 2022. Der Krieg in der Ukraine hat die sich seit Jahren abzeichnende Polarisierung in der Internet-Governance-Diskussion und damit den Prozess eine „Bifurcation“ des Internet beschleunigt.

  • Auf der einen Seite steht das Konzept eines freien, offenen, vertrauenswürdigen, sicheren und unfragmentierten Internet, an dessen Gestaltung alle Stakeholder, in ihren jeweiligen Rollen, gleichberechtigt beteiligt sind. Auf der anderen Seite steht das Konzept eines vom Staat kontrollierten Internet, das sich auf das Prinzip der „Cybersouveränität“ gründet, demzufolge jede Regierung ihr „nationales Internetsegment“ zum Schutz von „nationaler Sicherheit“ und „öffentlicher Ordnung“ regulieren kann. Die beiden Konzepte geraten insbesondere bei den gesellschaftspolitisch relevanten Internetthemen in einen grundsätzlichen Konflikt.
  • Auf der technischen Ebene dominiert nach wie vor die „One World – One Internet“-Philosophie, die auf dem „Multistakeholder-Governance-Modell“ basiert. Aber auf der Ebene der Anwendungen wird das Internet in einer Welt mit 193 nationalen Jurisdiktionen immer mehr zum „Splinternet“. Dabei verschieben sich die Koordinaten im globalen Internet-Governance-Ökosystem zunehmend zugunsten der Regierungsebene. Vor zwei Jahrzehnten standen nicht-staatliche Institutionen wie die Netzwerke der technischen Community und der digitalen Zivilgesellschaft sowie die im Wachsen begriffenen transnationalen privaten Unternehmen im Zentrum der globalen Internetdebatte. Heute haben technische Community und Zivilgesellschaft erheblich an Einfluss verloren. Und selbst die großen privaten Internetunternehmen können sich immer weniger staatlicher Regulierung entziehen.

Im 2. Quartal 2022 war diese Entwicklung insbesondere bei den folgenden Prozessen und Ereignissen sichtbar:

  • Die Unterzeichnung der von der US-Regierung initiierten „Deklaration über die Zukunft des Internet“ am 28. April 2022 in Washington;
  • Die 2. Sitzung des US-EU Technologie- und Handelsrat am 15. und 16. Mai 2022 in Paris;
  • Der Verabschiedung Internet-relevanter Gesetze (Digital Markets Act & Digital Services Act) durch die Europäische Union Ende Juni 2022;
  • Dem Gipfeltreffen der fünf BRICS-Staaten am 24. Juni 2022 in Beijing;
  • Der G7-Gipfeltreffen am 26. Juni 2022 in Elmau;
  • Dem Treffen der G20 Digital Economy Working Group am 26. Juni 2022 in Indonesien;
  • Die Nominierung des indischen Diplomaten Amandeep Singh Gill als „UN Technology Envoy“ am 10. Juni 2022;
  • Die ITU-Weltkonferenz zur Telekommunikationsentwicklung (WTDC) in Kigali vom 6. bis zum 16. Juni 2022;
  • Dem Arrangement zur Zukunft eines digitalen Handelsabkommens im Rahmen der 12. WTO-Ministerkonferenz am 16. Juni 2022;
  • Den Cybersicherheits-Verhandlungenim Rahmen der UNO Ende Juni 2022

Die „Deklaration zur Zukunft des Internet“ (DFI) wurde am 28. April 2022 von 60 Regierungen in Washington unterzeichnet.[1]

  • Ursprünglich wollte die Biden-Administration im Rahmen ihres „Demokratie-Gipfels“ im Dezember 2021 eine „Allianz zur Zukunft des Internet“ aus der Taufe heben. Diese „Allianz“ sollte sich aus „gleichgesinnten Staaten“ formieren und sich gegen die weitere „Autokratisierung“ des Internet positionieren. Kritische Einwände, dass die USA mit einer solchen „Allianz“ selbst die eigentlich ungewollte globale Fragmentierung des Internet befördern würde, führte schließlich zur Idee einer konstruktiv formulierten „Deklaration“, die mehr als „Einladung“, denn als „Ausgrenzung“ verstanden werden sollte.
  • Die Deklaration bekräftigt die Ideale der Gründungsväter des Internet. Sie formuliert sechs Kriterien (offen, frei, global, interoperabel, vertrauenswürdig und sicher) und fünf Prinzipien (Freiheit und Menschenrechte, Globales Internet, Internet für Alle, Cybersicherheit und Multistakeholder Governance). Sie verurteilt Internetzensur, Massenüberwachung und den Missbrauch des Internet für Cyberkriminalität und Desinformationskampagnen. Kritisiert werden autokratische Internet-Governance-Modelle. Die Deklaration beklagt aber auch wachsende Tendenzen einer wirtschaftlichen Zentralisierung im Internet und betont die „regulatorische Autonomie" von Regierungen in Bereich der Digitalisierung.
  • Während die Internet-Community dem Inhalt der Deklaration weitgehend zustimmte, wurde ehebliche Kritik am Verfahren geübt. Obwohl sich die Deklaration für das Multistakeholder-Governance-Modell einsetzt, war sie ausschließlich zwischen Regierungen verhandelt worden. Nicht-staatliche Vertreter hatten – im Unterschied zu der ähnlich angelegten NetMundial-Deklaration von 2014 – keine Möglichkeit, sich in den Prozess einzubringen. Unklar ist auch das Follow-up. Die Deklaration enthält keine Verfahren zur Umsetzung. Regelmäßige Erfüllungsberichte oder Überprüfungskonferenzen sind nicht vorgesehen.[2]
  • Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass von den 193 UN-Staaten nur 60 Regierungen das Dokument unterschrieben haben. Dass China, Russland und Iran das Dokument nicht gezeichnet haben, war zu erwarten. Aber auch für eine globale Internetpolitik relevante demokratische Länder wie Brasilien, Indien, Singapur, Kenia, Ghana, Südafrika und die Schweiz haben die Washingtoner Deklaration nicht unterschrieben.

Neben der Initiierung der Washington-Deklaration zur Zukunft des Internet, hat die Biden-Administration ihre Anstrengungen für eine Neuausrichtung ihrer internationalen Internetpolitik verstärkt. Dazu gehört eine verstärkte Förderung von neuen regionalen Netzwerken, insbesondere im Indo-Pazifischen Raum und die Umstrukturierung der Verantwortlichkeiten im US-amerikanischen Außenministerium.

  • Die bereits 2021 geschaffenen mehr politisch und militärisch ausgerichteten neuen Bündnisse QUAD (USA, Japan, Australien und Indien) und AUKA (Australien, USA, Großbritannien) enthalten eine umfangreiche Cybersicherheitskomponente. Am 5. Mai 2022 wurde ein neues „Global CBPR Forum“ zwischen sieben Mitglieder der APEC Gruppe initiiert. CBPR steht für „Cross Border Privacy Rules“ und soll zu einer kompatiblen Gesetzgebung zum Umgang mit Daten führen. Das Forum grenzt sich ausdrücklich von den APEC-Mitgliedern Russland und China ab. Neben den USA gehören dem neuen Forum Kanada, Japan, Korea, die Philippinen, Singapur und Taiwan an. [3]
  • Am 4. Juni 2022 wurde Nathaniel Fick zum neuen Sonderbotschafter für Cyberdiplomatie im US State Department berufen.[4] Fick leitet das neu geschaffene „Bureau for Cyberspace and Digital Policy“ und berichtet direkt an US-Außenminister Blinken. Die Nominierung von Fick bedarf noch der Zustimmung des US-Kongresses. Fick, ein früherer Marineoffizier, war in den letzten Jahren CEO der Cybersicherheitsfirma „Endgame“. Er war auch Co-Chair der Task Force zur Zukunft des Internet des US-amerikanischen Rates für Außenpolitik (Council of Foreign Relations). Diese Task Force hat in ihrem Ende Juni 2022 veröffentlichten Bericht eine radikale Neuausrichtung der amerikanischen Internet-Außenpolitik gefordert. Die Hoffnung, dass eine Globalisierung des Internet amerikanische Werten befördern würde, hätte sich nicht erfüllt. Die Realität, der man sich stellen müsste, sei, dass das Internet im Jahre 2022 politisch fragmentiert ist und autokratische Tendenzen auf dem Vormarsch sind. Um darauf zu reagieren, müsse eine neue offensive Auseinandersetzung mit den Gegnern des freien Internet organisiert werden. „The era of the global Internet is over“ heißt es in der Studie.

Beim G7-Gipfeltreffen in Elmau am 26. Juni 2022 wurden zwei Internet-relevante Themen besprochen. Einerseits ging es um die Internet-Freiheit und den Kampf gegen russische Desinformationskampagnen im Internet. Andererseits ging es um ein umfangreiches Unterstützungspaket für Entwicklungsländer zur Überwindung der digitalen Spaltung.[5]

  • In Elmau haben sich die Staats- und Regierungschefs der führenden westlichen Industriestaaten hinter die „Deklaration zur Zukunft des Internet“ gestellt und andere Staaten zu ihrer Unterzeichnung aufgerufen. Den Führern der G7 ist es aber nicht gelungen, die zum Gipfel nach Elmau angereisten Staatschefs der BRICS-Mitglieder Indien und Südafrika sowie den diesjährigen Vorsitz der G20, Indonesien, zur Unterschrift zu bewegen. Das von den G7 gemeinsam mit den Präsidenten der eingeladenen fünf Schwellenländer in Elmau unterzeichnete Dokument „2022 Democratic Resiliencies Statement“ setzte sich zwar für ein freies und offenes Internet ein, vermeidet aber eine Referenz zur Deklaration.[6]
  • Verständigt haben sich die G7 Staaten auf ein umfangreiches Förderprogramm für Entwicklungsländer im Umfang von 600 Milliarden Dollar. Das bereits beim 2021er G7-Gipfel in Cabis Bay verabschiedete Programm „Build Back Better“ ist als ein Gegenstück zur chinesischen „Belt and Road Initiative“ (BRI) gedacht. Die BRI enthält das Projekt einer „digitalen Seidenstraße“ mit der China seinen Einfluss vor allem in Afrika ausbauen will. Ein Großteil der 600 Milliarden Dollar der G7 soll daher in die Entwicklung der digitalen Infrastruktur in Entwicklungsländer gehen. Damit will man den Ländern helfen, die nachhaltigen Entwicklungsziele der UNO bis zum Jahr 2030 zu erreichen und unabhängiger von China zu werden.

Wenige Tage vor dem G7-Gipfel in Elmau absolvierten die Präsidenten der fünf BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) ihr diesjähriges Gipfeltreffen in virtueller Form. 2022 hat China den BRICS-Vorsitz. Chinas Präsident Xi Jinping wiederholte in seiner Rede die Forderung, das Internet auf der Basis des Prinzips der „Cybersouveränität“ global neu zu gestalten.[7]

  • In der Beijing-Deklaration vom Juni 2022 räumen die fünf Präsidenten dem Thema „Cybersicherheit“ eine vorrangige Rolle ein. Dabei sollen die Vereinten Nationen die zentrale Rolle spielen. Das betrifft insbesondere die Verhandlungen zur Ausarbeitung von Normen für staatliches Verhalten im Cyberspace (OEWG) und die Arbeiten an einer neuen UN-Konvention im Kampf gegen Cyberkriminalität (AHC).
  • Vereinbart wurde auch eine verstärkte digitale Zusammenarbeit innerhalb der BRICS Länder. Der PartNIR-Mechanismus (Partnership for the New Industrial Revolution) soll ausgebaut werden, insbesondere für eCommerce, Cloud Computing und künstliche Intelligenz. Die BRICS Digital Task Force soll aktiv werden, um weitere Länder für eine digitale Kooperation im Rahmen des neuen „BRICS+ Programms“ zu gewinnen.

Die indonesische G20-Präsidentschaft ist zunehmend von den geo-politischen Folgen des Ukraine-Krieges überschattet. Zahlreiche Minister- oder Expertentagungen enden ohne eine gemeinsame Schlusserklärung. Davon ist auch die Vorbereitung der für Juli 2022 geplante Sitzung der G20-Digitalminister betroffen.[8] Bei der 2. Sitzung der G20 Digital Economy Working Group (G20 DEWG) am 27. Juni 2022 ging es vor allem um den grenzüberschreitenden Datenfluss und die Zukunft des beim G20-Gipfel im Rom im November 2021 beschlossenen Rahmenabkommens für eine globale Digitalsteuer. Es zeichnet sich ab, dass die Einführung der Digitalsteuer – ursprünglich für Januar 2023 terminiert – ins Jahr 2024 verschoben wird. Die Verhandlungen zu einem globalen digitalen Handelsabkommen, die in der WTO geführt werden, wurde gleichfalls auf die lange Bank geschoben und sollen jetzt von der 13. WTO-Ministerkonferenz Ende 2023 oder 2024 zu einem Abschluss gebracht werden.

Unter der französischen EU-Präsidentschaft wurden im 2. Quartal 2022 wichtige Gesetzesvorhaben zur Digitalpolitik verabschiedet.

  • Im Mittelpunkt stand die Verabschiedung des „Digital Markets Act“ (DMA) und des „Digital Services Act“ (DSA).[9] Mit den beiden Gesetzen will die EU insbesondere transnationale Internet-Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen, sich an faire Wettbewerbsregeln zu halten. Das DSA enthält darüber hinaus präzise Bestimmungen, wie soziale Netzwerke mit illegalen Informationsinhalten umzugehen haben. Auch bei den weiteren Gesetzesvorhaben der EU – Data Governance Act, AI Regulatory Package, Chips Act etc. – wurden unter der französischen Ratspräsidentschaft erhebliche Fortschritte erzielt.
  • Die EU setzt damit den vor allem von der Vizepräsidentin der EU-Kommission, Margrethe Vestager, gepushten Kurs fort, im globalen Internet-Governance-Ökosystem ein „Norm Maker“, und nicht ein „Norm Taker“ zu sein. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte im 2. Quartal 2022 wieder in mehreren Reden bekräftigt, dass die EU sich in einer besonderen Rolle sieht, das globale „Digital Rulebook“ zu schreiben.
  • Diese Strategie scheint erfolgreich zu sein. Immer mehr Länder nehmen die EU-Regeln zum Internet als Vorbild für ihre nationale Internet-Gesetzgebung. Selbst in den USA häufen sich Stimmen bei Themen wie Schutz der Privatsphäre oder Förderung eines fairen Wettbewerbs sich an EU-Regeln zu orientieren. Der Verweis auf die „regulatorische Autonomie“ in der „Deklaration über die Zukunft des Internet“ kam auf Druck der EU zustande und wurde von den USA akzeptiert. Auch bei der 2. Tagung des US-EU Technologie- und Handelsrats im Mai 2022 in Paris wurden die bisherigen Konflikte zwischen EU und US in einem eher konstruktiven Geist besprochen. [10]
  • Kritiker wie das Magazin „Politico“ warnen aber die EU vor einer „chinesischen Falle“. In einem Artikel vom 28. Juni 2022 argumentiert Konstantinos Komaitis, dass die Betonung der europäischen digitalen Souveränität und die umfassende Regulierung des Internet der chinesische Internet-Strategie in die Hände spielt.[11] Tatsächlich hat die chinesische Regierung in jüngsten Gesetzesvorhaben, so z.B. zum Datenschutz oder zur künstlichen Intelligenz, viele Textpassagen aus den europäischen Rechtsakten übernommen. Was wie ein positiver Input aussieht, erweist sich jedoch in der Realität als kontraproduktiv. In Europa können staatliche Internetregeln von unabhängigen Gerichten überprüft und kassiert werden, wenn sie nicht mit der Gewährleistung individueller Menschenrechte und grundlegender Freiheiten kompatibel sind. In autoritären Staaten, die keine Gewaltenteilung kennen, fehlen Mechanismen wie unabhängige Gerichte, freie Medien, offene Zivilgesellschaft and Minderheitenschutz.

Beim NATO-Gipfel am 29. Juni 2022 in Madrid wurde die Cyberstrategie der NATO präzisiert. Bekräftigt wurde die Aussage, dass auch ein Cyberangriff auf einen NATO-Staat als ein Angriff im Sinne von Artikel 5 des NATO-Vertrages darstellt und damit den kollektiven Verteidigungsfall im Bündnis auslösen könnte. Die NATO-Staats- und Regierungschefs erklärten weiter ihre Absicht, extensiv in neue technologische Waffenentwicklungen zu investieren, um sowohl defensive als auch offensive Cyberkapazitäten der NATO auf einen Stand zu bringen, der jeden potenziellen Feind abschreckt. Der NATO-Investment Fond wurde auf eine Milliarde Dollar aufgestockt. Am 6. April 2022 wurde die NATO-Charter für den „Defence Innovation Accelerator for the North Atlantic“ (DIANA) unterschrieben.[12]

Am 7. Juni 2022 veranstaltete die Shanghai Cooperation Organisation zusammen mit der russischen Regierung in Yugra/Westsibirien einen Expertenworkshop zum Thema Informationssicherheit. Der stellvertretende SCO Generalsekretär Grigory Logvinov entwarf auf der Konferenz ein Acht-Punkte-Programm, das u.a. die militärische Komponente von Informationssicherheit betont, auf das Prinzip der nationalen „Cybersouveränität“ setzt, eine „Dezentralisierung“ des „global digital space“ fordert und sich für den Schutz von persönlichen Daten im „Metaverse“ einsetzt.[13]

Die Verhandlungen zur Stärkung der internationalen Cybersicherheit im Rahmen der UNO wurden im 2. Quartal 2022 auf drei Ebenen fortgesetzt.

  • Vom 30. Mai bis zum 6. Juni 2022 fand die zweite reguläre Verhandlungsrunde des Ad Hoc Committees (AHC) zur Ausarbeitung einer UN-Konvention zur Bekämpfung von Cyberkriminalität in Wien statt. Ziel dieser Verhandlungsrunde bestand darin, zu den einzelnen möglichen Artikeln einer zukünftigen Konvention einen Meinungsaustausch zu führen. Zahlreiche Länder unterbreiteten konkrete Vorschläge. Der Meinungsaustausch verlief ungeachtet der sichtbar werdenden inhaltlichen Differenzen in einer konstruktiven Atmosphäre. Die eigentlichen Verhandlungen haben aber noch nicht begonnen. Das UN-Sekretariat wird frühestens Ende 2022 einen ersten diskussionswürdigen Textentwurf vorstellen.[14]
  • Am 22. Juni 2022 präsentierte der Vorsitzende der „Open Ended Working Group“ (OEWG), Burhan Gafoor, in New York seinen ersten Berichtsentwurf. Dieser Text enthält noch keine Vorschläge für substantielle Vereinbarungen, sondern resümiert die bisherige Diskussion. Er wird auf der nächsten regulären Sitzung im Juli 2022 in New York besprochen.[15] Ein neuer Streit ist um die Teilnahme von nicht-staatlichen Akteuren an den formellen Sitzungen der OEWG entbrannt. NGOs, die nicht beim ECOSOC akkreditiert sind, können an den Sitzungen teilnehmen unter der Voraussetzung, dass kein UN-Mitgliedsstaat Einwände erhebt. Für die Juli-Sitzung hat nun die Ukraine Einwände gegen mehrere russische NGOs und Unternehmen, darunter das Cybersicherheitsunternehmen Kaspersky, erhoben. Im Gegenzug hat die russische Regierungen Einwände gegen die Teilnahme von 21 NGOs und Unternehmen erhoben, darunter das Davoser Weltwirtschaftsforum, das Global Forum for Cyberexpertise (GFCE) und den Tech Accord.
  • Im Juni fanden zwei weitere informelle Konsultationen der Gruppe von Regierungsexperten zu tödlichen autonomen Waffensystemen (GGE LAWS) zur Vorbereitung der nächsten formellen Verhandlungen Mitte Juli 2022 in Genf statt. Gegenstand der Konsultationen waren menschliche Kontrolle von autonomen Waffensystemen, ethische Überlegungen, Verantwortlichkeiten und Risikoanalyse. Strittig ist nach wie vor das Ziel der Verhandlungen. Die USA wollen einen rechtlich unverbindlichen „Verhaltenskodex“ (Code of Conduct), viele Entwicklungsländern wollen eine rechtsverbindliche Konvention.[16]

Nach einer über anderthalbjährigen Vakanz hat UN-Generalsekretär António Guterres am 10. Juni 2022 mit dem indischen Diplomaten Amandeep Singh Gill seinen „UN Technology Envoy“ benannt. Die Schaffung dieses neuen Postens – der Sonderbotschafter ist praktisch die „rechte Internet-Hand“ des UN-Generalsekretärs - war in der „UN-Roadmap for Digital Cooperation“ im Juni 2020 angekündigt worden.

  • Infolge interner Auseinandersetzungen innerhalb des UN-Sekretariats blieb der Posten zunächst unter kommissarischer Leitung der stellvertretenden Direktorin von UNDESA. Amandeep Singh Gill war Co-Direktor des „UN High Level Panels on Digital Cooperation“ (HLP) und Chair der Regierungsexpertengruppe, die sich mit autonomen Waffensystemen befasst (GGE LAWS). Hauptaufgabe von Amandeep Singh Gill ist die Umsetzung der „Roadmap“ und die Vorbereitung des „Global Digital Compact“ (GDC).[17]
  • Der „Global Digital Compact“ soll im September 2023 vom UN-Weltgipfel zur Zukunft des Planeten verabschiedet werden. Im Juni 2022 hat die UNO eine offene Multistakeholder-Konsultation zum GDC begonnen. Bis zum 30. September 2022 sind alle Stakeholder aufgerufen, Input zu geben. Dazu gibt es einen Fragebogen.[18] Der GDC soll auch die Diskussion beim 17. IGF Ende November 2022 in Addis Abeba dominieren. Unklar ist noch das Verfahren zur Erstellung des finalen Textentwurfs. Das wird die 77. UN-Vollversammlung bis Dezember 2022 festlegen. Ob nicht-staatliche Stakeholder in diesen Prozess einbezogen werden, ist noch offen.

Bei der alle vier Jahren stattfinden ITU-Weltkonferenz zur Entwicklung der Telekommunikationsinfrastruktur (WTDC) vom 6. – 16. Juni in Kigali/Ruanda, verständigten sich die 193 Mitgliedsstaaten der ITU auf einen „Kigali Action Plan“ der helfen soll, bis zum Jahr 2030 die digitale Spaltung zu überwinden und jenen drei Milliarden Menschen, die noch offline sind, Zugang zum Internet zu ermöglichen. Die „Partner2Connect Digital Coalition“ hat in Kigali Zusagen von 25 Milliarden Dollar für digitale Infrastrukturprojekte gemacht.[19]

  • Während der Konferenz schlug der von Huawei eingebrachte chinesische Vorschlag, sich mit einem erweiterten Internet-Adressprotokoll (IPv6+) zu beschäftigen, hohe Wellen. IPv6+ soll vor allem bei 5G-Anwendungen und Cloud-Diensten einen Mehrwert bringen. Der Vorschlag wurde aber nicht weiter diskutiert und findet in der Abschlusserklärung keine Erwähnung.
  • Die WTDC wurde bereits überschattet vom Wahlkampf um die zukünftige Führung der ITU. Doreen Bogdan-Martin, die Direktorin der ITU-D, die die WTDC organisierte, ist eine der beiden Kandidaten für die Nachfolge des im September 2022 ausscheidenden chinesischen ITU Generaldirektors Houlin Zhao. Der andere Kandidat ist der Russe Rashid Ismailow. Ismailow war in den 2010er Jahren stellvertretender Kommunikationsminister in Russland und ist jetzt CEO von Vimpel-Communcations, einem privaten russischen Telekommunikationskonzern. Er ist auch Mitglied des Direktoriums der von Bob Kahn geleiteten DONA Foundation.[20]

Die jahrelangen Verhandlungen für ein globales Abkommen zum elektronischen Geschäftsverkehr und Handel mit digitalen Daten sind auf der 12. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) erneut vertagt worden. Obwohl mehrere Kapitel eines möglichen Vertrages noch vor der WTO-Ministerkonferenz einvernehmlich verabschiedet worden waren, war ein Konsens über das Gesamtpaket nicht möglich. Am 16. Juni 2022 einigten sich die WTO-Mitglieder, das aus dem Jahr 1999 stammende Moratorium zum Verzicht auf die Erhebung von Zöllen auf grenzüberschreitende elektronische Transaktionen bis zum 31. Dezember 2023 zu verlängern. Das Auslaufen des Moratoriums ist an das neue Abkommen gekoppelt, das nun von der 13. WTO-Ministerkonferenz 2023 oder 2024 verabschiedet werden soll.[21]

Am 4. April 2022 hat sich in Rom das neue „Committee on Artificial Intelligence (CAI)“ des Europarates konstituiert. Das Komitee soll bis zum Jahr 2023 eine Rahmenkonvention zur künstlichen Intelligenz ausarbeiten. Das CAI kann sich auf eine mehr als zweijährige Vorarbeit einer Arbeitsgruppe des Europarats (CAHAI) stützen. Das CAHAI hat bereits verschiedene Optionen für mögliche KI-Regelungen entworfen und sich dabei eng abgestimmt mit den ins Auge gefassten EU-Regelungen zur künstlichen Intelligenz. Vorsitzender des Komitees ist der Schweizer Botschafter Thomas Schneider, ehemaliger Chair des ICANN-Regierungsbeirates (GAC).[22] In einer Erklärung vom 4. April 2022 haben mehrere zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter Algorithm Watch, Access Now und Global Partner Digital (GDP) gefordert, das ein zukünftiges verbindliches Rechtsinstrument mit den menschenrechtlichen Standards des Europarates kompatibel sein muss.

Am 3. Mai 2022, den UNESCO-Welttag der Pressefreiheit, hat das OSZE-Büro für freie Medien in Wien gemeinsam mit dem Sonderberichterstatter für Meinungsäußerungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrates, der Inter-Amerikanischen Kommission für Menschenrechte und der Afrikanischen Kommission eine Erklärung zum Ukraine-Krieg veröffentlicht. Darin wird die Sorge um das Funktionieren der Internet-Infrastruktur in der Ukraine zum Ausdruck gebracht, auf die schwierige Rolle von Journalisten hingewiesen und der Missbrauch des Internet für russische Desinformationskampagnen verurteilt.[23]

Nach zwei virtuellen Meetings fand vom 20. – 22. Juni 2022 das europäische Internet Governance Forum EURODIG in Triest als ein hybrides Meeting statt. Mehr als 500 Teilnehmer hatten sich registriert. Themen waren u.a. Cybersicherheit, das Multistakeholder-Modell für Internet Governance, europäische digitale Souveränität und die Deklaration zur Zukunft des Internet. Die Empfehlungen der Konferenz werden als „Messages from Triest“ an das von der UNO veranstaltete IGF im November 2022 in Addis Abeba weitergleitet.[24]

Der von Microsoft initiierte Cybersecurity Tech Accord hat am 23. Mai 2022 eine Studie zur globalen Cybersicherheit veröffentlicht, die sich ausführlich mit den Cyberangriffen im Rahmen des Ukraine-Krieges befasst. Am 24. Mai 2022 veranstaltete der Tech Accord beim Davoser Weltwirtschaftsforum einen Workshop zum Thema  „The Technology Industry and the Age of Hybrid Warfare“.[25]

Am 7. April 2022 hat das Global Forum on Cyber Expertise (GFCE) seinen Jahresbericht für 2021 veröffentlicht. Das GFCE kümmert sich vor allem um Cyber Capacity Building. Die Zahl seiner Mitglieder ist mittlerweile auf 157 Institutionen und Unternehmen angewachsen. Im Jahr 2021 wurde das Konzept der „Regionalen Hubs“ vor allem im pazifisch-asiatischen Raum ausgebaut. Neu ist das „Women in International Security and Cyberspace Fellowship“ und die „Cyber Financial Inclusion Working Group“.[26]

Wegen Corona war das Davoser Weltwirtschaftsforum vom Januar auf den Mai 2022 verlegt worden.  In mehr als 20 Workshops wurden Themen wie Cybersicherheit, digitale Transformation, künstliche Intelligenz und die Zukunft des Internet besprochen. Ein dominierendes Thema war Web3 und das Metaverse. Pekka Lundmark, CEO von Nokia, prognostizierte, das mit 6G in den 2030er Jahren das Smartphone nicht mehr das wichtigste Endgerät in der digitalen Kommunikation sein werde. Mit dem Metaverse würden Menschen zu „digitalen Zwillingen“ und viele Funktionen des Smartphones würden in „Finger-Chips“ oder in „digitale Brillen“ wandern. [27]

  1. EU and international partners put forward a Declaration for the Future of the Internet, 28. April 2022, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_22_2695>
  2. How to Save the “Past” in the “Future of the Internet”: Principles, Procedures and Problems of the Washington Declaration, https://circleid.com/posts/20220507-how-to-save-the-past-in-the-future-of-the-internet-principles-the-washington-declaration>
  3. New Kid on the Block: The Global CBPR Forum, 2. Mai 2022, https://www.cdotrends.com/story/16393/new-kid-block-global-cbpr-forum>
  4. Nathaniel Fick, https://en.wikipedia.org/wiki/Nathaniel_Fick>
  5. G7 Leaders' Communiqué, 28. Juni 2022, http://www.g7.utoronto.ca/summit/2022elmau/220628-communique.html>
  6. 2022 Democratic Resiliencies Statement, 27. Juni 2022, http://www.g7.utoronto.ca/summit/2022elmau/220627-resilient-democracies.html
  7. BRICS-Gipfel, Beijing, 23. Juni 2022, http://brics2022.mfa.gov.cn/eng/
  8. Third G20 DEWG meeting focuses on cross-border data flow, 27. Juni 2022, https://en.antaranews.com/news/236349/third-g20-dewg-meeting-focuses-on-cross-border-data-flow
  9. Digital Markets Act und Digital Services Act, https://emr-sb.de/themen/dma-dsa/
  10. EU-U.S. Joint Statement of the Trade and Technology Council, 2nd Meeting, Paris, 16. Mai 2022, https://circabc.europa.eu/ui/group/09242a36-a438-40fd-a7af-fe32e36cbd0e/library/14bf0332-62ee-411b-8c74-bea38cd79efb/details https://www.politico.eu/article/eu-internet-regulation-falling-into-china-trap/
  11. EU Internet regulations are falling into the ‘China trap’, 28. Juni 2022, https://www.politico.eu/article/eu-internet-regulation-falling-into-china-trap/
  12. NATO Summit, Madrid, 28. Juni 2022, https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_196144.htm und NATO sharpens technological edge with innovation initiatives, https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_194587.htm
  13. SCO Deputy Secretary-General attends 5th International Conference on Information Security Infoforum-Yugra, 9. Juni 2022, http://eng.sectsco.org/news/20220609/842729.html
  14. Second session of the Ad Hoc Committee, Wien, 30. Mai bis 10. Juni 2022, https://www.unodc.org/unodc/en/cybercrime/ad_hoc_committee/ahc-second-session.html
  15. 2022 Annual Progress of the OEWG, Zero Draft, 22. Juni 2022, https://reachingcriticalwill.org/disarmament-fora/ict/oewg-ii/documents
  16. Group of Governmental Experts (GGE) on emerging technologies in the area of lethal autonomous weapons systems (LAWS), https://meetings.unoda.org/section/ccw-gge-2022_background_18546/
  17. Indischer Diplomat wird Tech-Gesandter der Vereinten Nationen,https://www.heise.de/news/Indischer-Diplomat-wird-Tech-Gesandter-der-Vereinten-Nationen-7142208.html
  18. Global Digital Compact, https://www.un.org/techenvoy/global-digital-compact
  19. ITUWTDC, Kigali Action Plan, 6. – 16. Juni 2022, https://www.itu.int/en/ITU-D/Conferences/WTDC/WTDC21/Pages/default.aspx >
  20. Rashid Ismailow, https://www.dona.net/team/rashid-ismailov
  21. Development Committee welcomes MC12 decision on e-commerce work programme, 20. Juni 2022, https://www.wto.org/english/news_e/news22_e/devel_20jun22_e.htm>
  22. Inaugural Meeting of the Committee on Artificial Intelligence (CAI), 11. April 2022, https://www.coe.int/en/web/artificial-intelligence/-/inaugural-meeting-of-the-committee-on-artificial-intelligence-cai->
  23. Joint Statement on the Invasion of Ukraine and the Importance of Freedom of Expression and Information, 2. Mai 2022, https://www.osce.org/representative-on-freedom-of-media/517107
  24. EURODIG, Triest, 20. – 22. Juni 2022, https://www.eurodig.org/
  25. The Technology Industry and the Age of Hybrid Warfare, 23. Mai 2022, https://cybertechaccord.org/the-technology-industry-and-the-age-of-hybrid-warfare/
  26. Release of the GFCE Annual Report 2021, 7. April 2022, https://thegfce.org/release-of-the-gfce-annual-report-2021/>
  27. World Economic Forum Davos 2022: War in Ukraine, Metaverse und Splinternet https://circleid.com/posts/20220530-world-economic-forum-davos-2022-war-in-ukraine-metaverse-und-splinternet

Wolfgang Kleinwächter

Professor Emeritus of Internet Policy & Regulation at Aarhus University